Invasion der Vollpfosten

Es geschah nahezu unbemerkt, weit entfernt von den großen Städten, zwischen Streuobstwiesen am Rande eines kleinen, unbedeutenden Dorfes. Die Wege waren eines Tages breiter, einige alte Bäume waren verschwunden. Dann kamen die Vollpfosten.

1. Tag: Der Anfang

Am Anfang war ein großes Loch, vielleicht 30 Schritte im Durchmesser und ebenso viele Stufen tief. Sein Rand bestand aus nackter, zerklüfteter Erde, auf der sich nach und nach wilde Gewächse ansiedelten. Eine verworrene Konstruktion aus Metallstangen füllte die riesige Grube. Weite Metallbögen umspannten das Zentrum wie die Ringe den Jupiter.

Der Boden war rund um das Loch mit schweren, silbrig glänzenden Platten bedeckt, die mit kryptischen Zeichen durchbrochen waren. Sie ähnelten den Buchstaben TPA in unserem Alphabet. Niemand wusste, was sie bedeuteten.

2. Tag: Die Ankunft

Eine graue, schwere Masse bedeckte das seltsame Metallgewirr bis einige Meter unter den Grubenrand. In der Mitte befand sich ein rotes sternförmiges Muster, das an die Landestelle eines Flugkörpers erinnerte. Tatsächlich stand dort ein rundes metallisches Objekt auf drei Stelzen.

Später war die Grube vollständig mit der bleiernen Masse gefüllt. Darüber erhob sich ein grauer Zylinder. Einige Meter über dem Boden führte eine Öffnung in das Innere, das vollkommen hohl war und kaleidoskopartig in ständig variierenden Blautönen schillerte.

In der Umgebung lagen schwere, seltsame Objekte und rätselhafte Zeichen herum. Ein gleichschenkliges Dreieck, das in weitere Dreiecke unterteilt war, hatte an den Ecken große runde Löcher. Im Zentrum war eine Scheibe angebracht, die ebenfalls von drei Stegen gehalten wurde. Manche glichen Tieren oder Pflanzen.

Riesige Rohre waren in der Landschaft verstreut. Ihre dicken Ränder waren in gleichmäßigen Abständen durchbohrt und mit Objekten bestückt, die Bewegungen in der Umgebung mit starrem Blick zu verfolgen schienen.

3. Tag: Die Ankömmlinge

Die fast 100 Meter hohen Giganten verbreiteten sich rasch. Sie hatten mehrere Arme, die völlig symmetrisch waren und grober Spitze glichen. Um sie herum lagen Quader, die wie riesige Legosteine aussahen. Grob gesponnene Netze erstreckten sich über weite Flächen.

Nach und nach streckten sie von ihren spitzenartigen Armen dünne Tentakel aus und verbanden sich mit ihren Artgenossen. Manchmal erzeugten sie pfeifende, knallende oder fauchende Töne, ähnlich wie Karbatschen. Die Tentakel waren immer in Gruppen gebündelt, die wiederum unter sich verbunden waren. Es schien, als wanderten sie durch das Land, gefolgt von ihren Nachkommen.

So nahmen sie die Erde in Besitz. Bedrohlich wirkten die starren Blicke der Monster. Die Beobachter im Helikopter über ihnen in den Wolken konnten nur hilflos auf sie herabschauen. Zu groß war ihre Macht geworden.

Eine kleine Baumgruppe auf einer Streuobstwiese beschloss, einen der Fremden in ihre Mitte aufzunehmen und versuchten eine Koexistenz. Dieser schien die Integrationsbemühungen freundlich aufzunehmen und die Zuneigung der Nativen zu erwidern.

Nur einer versuchte, die Invasion zu stoppen und die Verbreitung der Vollpfosten aufzuhalten: der Winter. Die Fremden vertrugen den Schnee und die Kälte nicht. Hoffnung keimte auf. Doch auch er konnte die Invasion nur noch verzögern, nicht mehr verhindern.

4. Tag: Die Physiognomie

Das Innere der seltsamen Wesen barg eine Überraschung. Sie waren völlig hohl. Die Wand war in Segmente geteilt und vollkommen glatt. Nur das Licht spielte mit der Tiefe, warf Schatten und tauchte sie in changierende, metallische Farben.

Sie schienen den Himmel zu berühren. Ihre Symmetrie war vollkommen. Spinnengleich konnten sie ihre unendlich langen Tentakel aufrollen, wenn sie nicht verbunden waren; sie aber jederzeit ausfahren und die Kommunikation mit den anderen aufnehmen. Berührungen konnten tödliche Blitze auslösen.

5. Tag: Kontakt

Mutige Menschen wagten sich eine Steigleiter empor in schwindelerregende Höhen. Ein Sturz in die Tiefe wäre tödlich gewesen. Heldenhaft versuchten sie, mit den Wesen in Kontakt zu treten. Sie reagierten nicht, ließen die Nähe aber zu.

Gigantische, dichte Netze spannten sich oft wochen- oder gar monatelang über weite Landschaftsflächen. Darüber fuhren sie ihre Tentakel aus, um sich mit ihren Artgenossen zu verbinden. Es schien, als wollten sie die Erdbewohner vor ihren gefährlichen Blitzen aus ihren Tentakeln schützen.

6. Tag: Die Kolonien

Langsam und unaufhaltsam siedelten sie sich an. Sie suchten die Nähe der Menschen, blieben aber am Rand der großen Städte. Nur in Gewerbegebieten tauchten sie auf, wo sie sich einfügten und die Atmosphäre der Siedlung nicht beeinträchtigten.

Ein friedliches Gehöft am Stadtrand. Ein paar Kühe weideten in aller Ruhe, ließen sich von den Riesen nicht stören. Heuballen waren für den Winter gestapelt. Die Giganten hatten den Hof besetzt. Niemand konnte entkommen. Ein kleiner Gittermast versuchte sich vor einem Vollpfosten zu verbergen.

7. Tag: Die Anderen

Noch größer und ausladender waren die Anderen. Ihre Versuche, sich durch ihre Gestalt unsichtbar zu machen, scheiterten. Sie hatten die gleichen langen Tentakel wie die Vollpfosten und verbündeten sich mit ihnen. Gemeinsam besiedelten sie die Erde.

Stolz ragten sie in den Himmel. Manche ihrer Tentakel waren mit dem Boden verbunden. Sie warteten auf den nächsten Siedler, mit dem sie sich verbünden konnten.

Ein Kran der Menschen wendete sich einem Stahlkoloss zu, der nur drei Arme hatte und ihm ähnlich sah. Auf seinem Ausleger trug er einen Weihnachtsstern – ein Symbol der friedlichen Koexistenz?

Musik: Stefan Keller from Pixabay


Epilog

Um die Stromversorgung im Raum Pforzheim/Karlsruhe und einen zusätzlichen Anschluss an das Versorgungsnetz sicher zu stellen, wurde ein Leitungsabschnitt neu gebaut. Die Baumaßnahmen boten mir spannende, aber auch witzige Fotomotive.

Nach und nach wurde das Ausmaß der neuen Stromtrasse sichtbar. Der Einfluss auf die Landschaft ist enorm. Auf Wiesen und an Autobahnen sind Wälder aus Strommasten entstanden.

Manche finden Gittermasten „schöner“ als Vollwandmasten, weil man hindurchsehen kann. Ich konnte mich nie entscheiden, welche von beiden ich hässlicher finden soll.

Die Gleichstromleitung SuedLink ist ein Schlüsselprojekt der Energiewende und wird mit der Inbetriebnahme 2028 Strom aus dem windreichen Norden zu Verbrauchszentren in den Süden Deutschlands transportieren. Tausende Kilometer zusätzlicher Stromnetze werden in den nächsten beiden Jahrzehnten notwendig.

Die Geschichte „Invasion der Vollpfosten“ ist inspiriert von „War of the Worlds“, ein Roman von Orson G. Wells. Jeff Wayne hat daraus ein Musical gemacht. Der Stoff war Grundlage für mehrere Filme.

Die Erde wird von Marsianern überfallen, die die Menschheit vernichten will. Das werden die Vollpfosten sicher nicht tun. Sie werden uns mit Strom versorgen und hoffentlich bessere Lebensbedingungen schaffen.


Die Story ist unter dem Titel „Invasion der Vollpfosten – eine fiktionale Fotostory“ im Verlag tredition, ISBN 978-3-384-31837-4, erschienen. Das Buch kann hier bestellt werden.


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